Winterbienen by Scheuer Norbert
Autor:Scheuer, Norbert [Scheuer, Norbert]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: C.H. Beck
veröffentlicht: 2019-04-23T22:00:00+00:00
Freitag, 28. April 1944
Die Sonne geht jetzt morgens um sechs Uhr auf, bald erreichen ihre Strahlen das Bienenhaus; ein milder, säuselnder Wind streicht über Gräser, die taunassen Spinnweben zwischen den Zweigen zittern, Vögel zwitschern, Mücken tanzen im Sonnenschein. Die Bienen sammeln jetzt von morgens bis abends unermüdlich Pollen und Nektar. Der eingebrachte Blütenstaub regt die Königin an, ihre Legeleistung nochmals deutlich zu erhöhen. Bei einzelnen Völkern habe ich bereits erste verdeckelte Drohnenbrut aus den Rahmen entfernt. Zu viele Drohnen sind nicht gut für den Stock; sie sind nur für die Fortpflanzung nützlich, liegen ansonsten nur herum und bedienen sich am Honig, verdrecken mit ihrem Kot den Bau. Das bedeutet, die Arbeiterinnen sind neben der Pflege der Larven verstärkt auch noch damit beschäftigt, den Bau von Verunreinigungen zu säubern.
Die Katze ist aus dem Versteck gekommen; sie sitzt jetzt am Stock unterhalb eines Flugloches, schlägt mit der Tatze nach den zurückkehrenden, vorm Stock schwebenden Bienen. Die Wächterbienen sammeln sich, nehmen Anlauf, prallen dann mit rasender Geschwindigkeit gegen die Katze und traktieren sie mit Stichen an der Nase und am Auge. Wenn das Wetter so bleibt, werden bald alle Waben mit Brut und Nahrung gefüllt sein; dann beginnen die Arbeiterinnen mit dem Bau der Königinnenzellen. Innerhalb zweier Wochen wachsen darin neue Königinnen heran. Kurz bevor die erste schlüpfen wird, verlässt die alte Königin mit einem Teil des Volkes den Stock, um ein neues Volk zu gründen.
Nach dem Frühstück und der Arbeit an den Bienen gehe ich zur Bibliothek hinunter.
Noch immer ist keine Anweisung zur Übergabe der Flüchtlinge eingetroffen, und ohne diese Anweisung ist an einen Transport zur Grenze nicht zu denken. Es ist kalt und feucht in der Grotte, und bestimmt fällt es den beiden schwer, die Tage und Nächte so einsam auszuharren. Die Frau klammert sich jedes Mal an mich, wenn ich gehen will, weint und will mich partout nicht loslassen.
Am Abend besuche ich Maria; ihre Kinder sind über die Osterferien in einem der Höhendörfer bei ihren Großeltern, und wir können uns in ihrem Haus vergnügen. Von Marias Schlafzimmer aus hört man vorbeiratternde Züge, die unablässig Kriegsmaterial für die Westfront bringen; Panzer und Geschütze rollen von den Güterzügen auf die Rampe. Zwangsarbeiter laden die ganze Nacht Waffen und Munitionskisten ab. In der Früh heulen Sirenen, aber ich bleibe mit Maria im Bett, denn an den Fluggeräuschen erkenne ich, dass die Verbände nur über uns hinwegfliegen werden.
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